Hochsensibel höchstpersönlich

Was befähigt mich eigentlich, etwas zum Thema Hochsensibilität beizutragen? In erster Linie 63 Jahre eigenen Erlebens sowie Zusammenlebens mit hochsensiblen Menschen aus mittlerweile 5 Generationen meiner Familie.

Seit mehr als 20 Jahren bin ich mit dem wissenschaftlichen Konstrukt Hochsensibilität vertraut, seit nämlich in „Psychologie Heute“ ein Artikel von Elaine Aron erschien, der Pionierin der Forschung zu diesem Thema.

Als Pädagogin und Heilpraktikerin für Psychotherapie arbeite ich seit 11 Jahren in eigener Praxis in Wesel und habe immer wieder mit Klient:innen zu tun, die sich wegen oder mit ihrer hochsensiblen Veranlagung an mich wenden.

Im folgenden Text geht es mir um eine alltagstaugliche Beschreibung des Phänomens mit gelegentlichen Rückgriffen auf einen exemplarischen Fall, der mir keine Probleme mit dem Datenschutz einbringt: mich selbst.

Hochsensibilität – eine eher unglückliche Wortwahl, wie ich finde …

Die Bezeichnung „Hochsensibilität“ kann ich übrigens gar nicht richtig leiden und finde die Wortwahl eher unglücklich. Das kommt daher, dass wegen des Bestandteils „hoch“ sofort eine vertikale Achse vor meinem inneren Auge erscheint, ein Oben und ein Unten. Leider assoziieren wir das zumeist automatisch mit einer Wertung: Oben ist toll, unten nicht so. Wenn man sich also oben verorten kann, ist man besser oder besonderer als andere in der Mitte oder unten – eine solche elitäre Sichtweise gefällt mir nicht; ich lehne sie ab und

plädiere sehr für Neutralität in dieser Angelegenheit. Ich fürchte nämlich, dass der Hype um HS in den letzten Jahren auch mit solcher Art erhofften Distinktionsgewinnen zu tun hat, was der Sache überhaupt nicht gerecht wird und den Menschen mit dieser Veranlagung eher einen Bärendienst erweist.

Worum geht es also bei der Hochsensibilität?

Es geht um ein Konstrukt, das Elaine und Arthur Aron 1997 in einer grundlegenden Arbeit vorgestellt haben. Sie beziehen sich darin u.a. auf die Untersuchungen von Jerôme Kagan an Kindern und vor allem Säuglingen. Seine Beobachtung, dass sich etwa 20 % der Kinder extrem reaktiv verhalten, konnten Aron und Aron auch in Bezug auf andere Gruppen bestätigen. Die Häufigkeitsangabe von 15 – 20% ist durch neuere Forschung inzwischen nach oben korrigiert worden, und man geht eher von 25 – 30% aus.

Ein Viertel bis ein Drittel jedweder Population ist nun keineswegs als selten zu bezeichnen – mit Wahlergebnissen dieser Größenordnung könnte man heutzutage locker Volkspartei werden.

Halten wir also fest: Hochsensible Menschen sind nicht selten, sehr wohl aber in der Minderheit. Die Folge ist, dass die meisten Bereiche des gesellschaftlichen Lebens nach Maßgabe der weniger sensiblen Menschen, nämlich der Mehrheit, organisiert sind, und die speziellen Bedürfnisse der hochsensiblen Menschen (HSM) meistens wenig bis gar keinen Raum bekommen.

Was bedeutet „extrem reaktiv“?

Es bedeutet, dass auf Reize in besonderer Weise reagiert wird, nämlich viel heftiger, beim Kleinkind z.B. beobachtbar als motorische Unruhe, Schreckhaftigkeit, Schreien und Weinen, Anhänglichkeit, ängstlicher Rückzug, Wutanfall.

Aha, denken Sie jetzt vielleicht, diese Nervbacken nennt man jetzt also hochsensibel … Ja, unter Umständen schon.

Ein Beispiel: Meine Mutter berichtet aus meiner Kleinkindzeit, dass es nicht möglich war staubzusaugen, wenn ich in der Nähe war, denn sofort fing ich fürchterlich an zu weinen. Das Tolle an meiner Mutter war: Sie hat es auch nicht gemacht – obwohl es ihr hämisch-ironische Bemerkungen eingebracht hat, etwa von ihrer Schwester: „Verdirb dem Kind die Laune nicht“.

Eine hohe Lärmempfindlichkeit ist tatsächlich typisch für HSM. Und sehr häufig auch eine äußerst empfindliche Nase.

Ein weiteres Beispiel: In meiner Familie wird die Anekdote über mich erzählt, dass ich – angeblich – meine Tante nicht mehr erkannt hätte, wenn sie vom Friseur gekommen sei, denn jedes Mal, wenn sie dann in den Kinderwagen geschaut habe, in dem ich lag, sei ich sofort in Tränen ausgebrochen. Sehr lustig. Meine Erklärung dieses Umstands ist eine andere: Es hat mir bestimmt den Atem verschlagen! Dauerwelle, Blondierung und reichlich Haarspray (wir sind im Jahr 1961!) haben ganz bestimmt ein Potpourri ergeben, das zu viel für mich war. Allein die Vorstellung treibt mir heute noch die Tränen in die Augen.

Wie kommt denn diese extreme Reaktivität zustande?

Es handelt sich um eine Besonderheit des autonomen Nervensystems, die klar einen genetischen Faktor hat: Die Wahrnehmung ist offener und subtiler, d.h. es werden mehr Reize aufgenommen, und diese werden zudem intensiver im zentralen Nervensystem verarbeitet. Die Reizoffenheit geht außerdem mit einer stärkeren Erregbarkeit einher, sodass es zu typischen Zuständen der Überstimulation kommt, die oft nicht mehr selbständig reguliert werden können. Ein Zuviel an Reizinput löst also dieses nervige und oft genug (für die Mehrheit) unverständliche Verhalten aus.

Die außerordentliche Empfindlichkeit kann alle Sinneskanäle betreffen und bezieht sich auf innere wie äußere Reize. Die Körpereigenwahrnehmung ist typischerweise sehr hoch, sodass etwa Schmerz oder Hunger oder Harndrang oder Darmtätigkeit stark in den Vordergrund rücken können und somit u.U. sehr beeinträchtigen. Der typische in der Folge passierende Stimmungseinbruch bei hochsensiblen Kindern und Erwachsenen ist mit einem „Stell dich nicht so an!“ wirklich nicht abzuwenden.

Au weia, denken Sie jetzt vielleicht, das hört sich anstrengend an! Das ist auch anstrengend – vor allem für den HSM selber, aber natürlich auch für co-regulierende Begleitpersonen.

Der erhöhte Reizinput und die intensive Verarbeitung verbrauchen viel Energie, und so findet sich der HSM vergleichsweise oft in Situationen wieder, in denen der Akku so gut wie leer ist und die Anspannung weit über dem erträglichen Maß – ganz prekär, das ist der Königsweg in den Burnout, der eigentlich ja nichts anderes ist als eine Erschöpfungsdepression. Leerer Akku und maximale Anspannung ist also ein Zustand jenseits des sogenannten Stresstoleranzfensters, der so kurz wie möglich gehalten werden sollte.

Stressanfälligkeit

Stressanfälligkeit ist wirklich ein Problem im Leben HSM. Kagans Untersuchungen an hochreagiblen Kleinkindern haben z.B. ergeben, dass sie in Stresssituationen mit erhöhter Herzschlagfrequenz reagieren, und Messungen an deren Körperflüssigkeiten (Blut, Urin, Speichel) wiesen auf einen hohen Gehalt an Noradrenalin im Gehirn hin (das ist das im Gehirn befindliche Korrelat zum Adrenalin, also ein Stresshormon). Auch und vor allem der Cortisolwert war stark erhöht – interessanterweise während und außerhalb von Stresssituationen. Oh je, das auch noch: körperlicher Dauerstress – extrem ungesund! Stimmt.

Sind HSM also gesundheitlich besonders fragil?

Ja und nein. Sie sind einerseits gefährdet durch chronischen Stress, und andererseits verfügen Sie auch über Schutzfaktoren.

Eltern hochsensibler Kinder berichten über Kopfschmerzen bei ihren Sprösslingen, Bauchschmerzen, schnell erhöhte Temperatur, Überempfindlichkeiten gegen bestimmte Stoffe, intensives Krankheitsbild bei Kinderkrankheiten. Erwachsene Hochsensible klagen vergleichsweise oft über Migräne, Allergien, Unverträglichkeiten, Reizdarm, Blutdruckprobleme und muskuläre Verspannungen.

Ein Beispiel: Meine Mutter berichtet (und ich habe selbst gute Erinnerungen daran), dass ich alle Kinderkrankheiten in extremer Weise bekommen habe, inklusive Fieberdelirium und mit Pusteln sogar in allen Körperöffnungen und auf der Bindehaut der Augen. Die ersten 6 Wochen des ersten Schuljahrs z.B. habe ich wegen Röteln verpasst.

Na toll, werden Sie sagen, und was sind die Schutzfaktoren?

Es sind z.B. Verhaltensweisen, die direkt auf die erhöhte Wahrnehmungssensibilität zurückzuführen sind: Wer extrem auf Zigarettenrauch reagiert, wird eher nicht zum Raucher (womit schon mal sehr viel für die Gesundheit getan ist!). Wer sensibel auf Alkohol reagiert, wird eher nicht zu viel davon konsumieren. Wer über intensive Propriozeption (Körpereigenwahrnehmung) verfügt, merkt, wenn er oder sie Bewegung braucht, Schlaf oder Nahrung. Oft sogar welche Art von Nahrung, z.B. etwas Grünes oder Bitteres oder Saures. Wer empfindlich auf Schmerzmittel reagiert und weiß, dass bei ihm oder ihr 200 mg Ibuprofen gut wirken, 400 oder gar 600 mg aber zu viel sind und unangenehme Zustände hervorbringen, erspart seiner Leber und den Nieren eine Menge Belastungen.

Außerdem merken HSM oft sehr früh, wenn etwas mit ihnen körperlich nicht stimmt. Das kann allerdings auch schwierig werden, denn manchmal ist das diagnostisch noch nicht nachweisbar, und Ärzte glauben ihnen nicht. Wenn man sich als HSM aber gut kennt und gelernt hat, sich selbstbewusst zu vertreten, kann man beharrlich bleiben und auf Untersuchung oder Behandlung bestehen.

Leistungsfähigkeit

Vielleicht fragen Sie sich jetzt, ob HSM eigentlich noch Zeit für etwas anderes haben als Wahrnehmungsverarbeitung, Stressbewältigung und gesund zu bleiben. Sind sie zu etwas zu gebrauchen? Können sie etwas leisten? Oder muss man sie vor allem schonen?

Jetzt kommt der eigentlich spannende Teil, finde ich.

HSM sind nicht beeinträchtigt im Sinne eines Störungsbildes wie z.B. Austismus oder ADHS. Manche Verhaltensweisen sind zwar manchen Störungsbildern ähnlich, aber sie sind ursächlich und in der Gesamtbetrachtung doch deutlich davon abgrenzbar. Wenn HSM z.B. sozial zurückhaltend sind, eher vom Rand aus beobachten, auf möglichst immer gleiche Abläufe achten, große Probleme mit Veränderungen habe und lieber allein arbeiten oder durch die Neigung zur Hyperfokussierung Tics entwickeln, kommt schon mal die Idee auf, sie ins autistische Spektrum einzuordnen. Das ist allerdings schnell zu entkräften, denn es fehlt das Kardinalsymptom des Autismus: die Unfähigkeit zur Einfühlung in andere. Empathie ist ja bei HSM oft sogar im Übermaß vorhanden. Die scheinbar autistischen Verhaltensweisen der HSM haben den Hintergrund der Stressreduktion, der besseren subjektiven Regulierbarkeit der Aufregung durch die Sicherheitsanker des bereits Bekannten.

Auch ADHS ist eine öfter vorkommende Fehldiagnose. Verhaltensweisen von überstimulierten HSM auf der einen und aufmerksamkeitsgestörten Menschen auf der anderen Seite sind auch tatsächlich sehr ähnlich: Wutanfälle, motorische Unruhe, oppositionelles Verhalten etwa. Ein nicht überstimuliertes hochsensibles Kind aber, zeigt dieses Verhalten nicht. Es ist im Gegenteil rücksichtsvoll, gewissenhaft und aufmerksam. Elaine Aron vermutet bei AD(H)S einen Dopaminüberschuss, der Impulsivität und hohe Risikobereitschaft produziert, während HS eher mit einem hohen Serotoninspiegel zusammenhänge.

Noch einmal: Hochsensibilität ist kein Störungsbild, sondern ein Persönlichkeitsmerkmal. Sie erfordert als solches also auch keine therapeutischen Maßnahmen. Was allerdings der Fall ist: Sie geht einher mit einer größeren Vulnerabilität für Angst, Zwänge, Depression oder Traumata. Die größere Verletzbarkeit wird begünstigt, wenn die Umweltbedingungen nicht angemessen sind, also nicht zur Veranlagung passen. Das kommt in unserer sehr schnelllebigen, konkurrierenden, Druck erzeugenden Leistungsgesellschaft leider ziemlich häufig vor.

HSM aber, die in ihrer Kindheit feinfühlig begleitet wurden, also gute Entwicklungsbedingungen hatten, profitieren enorm davon! Sie profitieren von einer guten Kindheit sogar mehr als nicht hochsensible Menschen. Man könnte also sagen: Wenn’s für HSM gut läuft, dann aber richtig! Gilt leider auch fürs andere Ende …

Stellen wir uns also einen solchen gut begleiteten HSM vor. Was kann er oder sie mit oder sogar wegen dieser Veranlagung leisten? Kurz gesagt: Das, wofür er oder sie sich begeistert. Denn auf der Positivseite, quasi als Gegenpol zur Stressanfälligkeit, steht ein Talent fürs Kohärenzempfinden, für Flow-Zustände, könnte man sagen. Wenn sich ein HSM mit seinen speziellen Talenten und Interessen beschäftigt, kann er tief eintauchen und beglückende Erlebnisse von Stimmigkeit erleben. Die komplexe Wahrnehmung bringt dann oft sehr kreative Ergebnisse oder Lösungen hervor.

Es lohnt sich immer, in gute, d.h. vor allem angstfreie Entwicklungsbedingungen zu investieren – und zwar für alle Menschen, unabhängig von ihrem Sensibilitätsgrad!

Ein scheinbares Kuriosum sei an dieser Stelle auch erwähnt: Konträr zur sensiblen Veranlagung sind HSM in Gefahrensituationen oft besonders besonnen und handlungsfähig. Sie können dann erstaunlicherweise ruhig bleiben und sind fokussiert auf das, was zu tun ist. Wie kann man sich das erklären? Diese Angsthasen und Mimosen laufen ausgerechnet dann zu großer Form auf, wenn’s richtig brenzlig wird?! Wie kriegen die das denn hin?

Ihre komplexe Wahrnehmungsfähigkeit hilft ihnen, unübersichtliche Lagen schnell zu erfassen und intuitiv eine Priorisierung vorzunehmen. Auf der Basis von ethischer Verpflichtung, Mitgefühl für Leidende und Gewissenhaftigkeit verstehen sie die Lage als Appell und dissoziieren in einen Handlungstunnel, in dem Chaos jedweder Art ausgeblendet wird. Ich vermute, dass HSM ganz gut im Training sind, was Dissoziation angeht. Wenn wir davon ausgehen, dass es eine natürliche Möglichkeit ist, kurzzeitig aus einer Situation auszusteigen, bietet es sich ja als Praktik an, wenn Überstimulation droht. Im Funktionsmodus innerhalb einer Notfallsituation ist der Selbstzugang blockiert, und insofern passiert eine Dissoziation.

Ist die Situation dann überstanden, kommt bei HSM das Arousal allerdings mit Macht – je nachdem, wie brenzlig die Lage war. Es kann dann lange dauern, bis sich die Erregung wieder abgebaut hat. Und natürlich ist auch eine traumatische Belastung möglich.

Ein weiterer Umstand, der begünstigend auf Leistung im Sinne von Lernleistung wirkt, ist das in der Regel sehr gute Gedächtnis HSM. Die von Natur aus multimodale Abspeicherung bringt das einfach so mit sich. HSM haben oft sehr weit zurückreichende Erinnerungen, die sehr lebendig und detailreich sind. HSM, die sich kaum an ihre Kindheit erinnern, z.B. überhaupt nichts mehr vom Kindergarten wissen, stehen für mich eher im Verdacht, etwas Traumatisches erlebt zu haben.

Ein Beispiel: Meine früheste Erinnerung stammt vom Tag der Ermordung John F. Kennedys, das war der 22. November 1963. Ich war ziemlich genau 2 Jahre und 8 Monate alt. Ich erinnere mich an Aufregung und die andersartige Stimmung der Erwachsenen, an das Radio in der Küche meiner Oma und an das seltsame, andere Verhalten der Leute am Milchwagen, der täglich kam und vor der Tür hielt. Ich glaube mir selbst diese Erinnerung, weil ich ein Bild dazu habe: von Beinen nämlich und nach oben blickend.

Gar nicht selten ist übrigens die Veranlagung der HSM zur Synästhesie, also die Verknüpfung verschiedener Sinnesmodalitäten, etwa Klänge mit Farbwahrnehmungen. Das läuft im Hintergrund ab, oft total unbewusst, und ist oft sehr nützlich fürs Gedächtnis – manchmal aber auch nicht.

Mein Beispiel: Bei mir sind Vokale mit Farben assoziiert und somit haben z.B. Wochentage und Zahlen eigene Farben, immer dieselben natürlich. Das ist meistens gut oder neutral, manchmal aber auch nicht. Ich bin etwa mal an einem Freitag zu einem Arzttermin erschienen und erfuhr von den Sprechstundenhilfen, dass mein Termin am Vortag war, also am Donnerstag. Ich war total verdattert, denn ich war felsenfest davon überzeugt, mich korrekt erinnert zu haben. Was war passiert? Mein Gehirn hat (praktisch ohne mich zu fragen) ein bisschen aufgeräumt und Dinge, die nach seinem Empfinden zusammengehören, kurzerhand auch zusammengebracht: Die Neun und der Freitag sind schwarz; die Acht und der Donnerstag sind braun. Zack, musste der Neunte also ein Freitag sein! Mein Termin war allerdings am Donnerstag, dem Neunten.

Was brauchen denn HSM genau, um sich entfalten zu können?

Am allermeisten brauchen sie das Gefühl von Sicherheit.

Die Abwesenheit von Druck (Leistungsdruck, Zeitdruck, Anpassungsdruck) wirkt schon Wunder: Langsamer sein zu dürfen, weil man viel mehr bedenkt oder mehr als eine Lösung findet, ist Balsam für das hochsensible Gehirn.

Vorhersehbare Abläufe, verbindliche Strukturen, verlässliches Verhalten der Begleitpersonen sind sicherheitsgebende Eckpfeiler im Leben HSM. Vorbereitet zu werden auf Veränderungen oder fremde Situationen und Menschen vermindert die Aufregung und erhöht dadurch die Flexibilität.

Übergänge sind von daher besonders kritische Phasen, die am besten gut vorbereitet und einfühlsam und verständig begleitet werden sollten: Eintritt in Kita oder Schule, Schulwechsel, Umzüge, Trennungen, Stellenwechsel, Renteneintritt, aber auch entwicklungsbedingte Übergänge wie Zahnwechsel, Pubertät, Adoleszenz, Wechseljahre.

Eine ruhige Umgebung, frei von starken Sinnesreizen, ermöglicht Entspannung und Konzentration. Die Möglichkeit, sich bei Überstimulation kurz zurückzuziehen, z. B. in einen Nebenraum oder notfalls auf die Toilette, ist wichtig, denn so kann die emotionale Kontrolle wiedererlangt werden.

Oft ist es auch nötig, dem HSM zwischendurch eine Auszeit vom anstrengenden Alltag zu verschaffen, z.B. in Form eines freien Tages. – Riecht nach Extrawurst, ich weiß, lohnt sich aber wirklich und verhindert viele Folgeprobleme. Leider muss man dazu meistens Krankheit vorschützen, denn Krankheitsprävention zählt nicht als Grund. Schade, denn genau das ist es.

Meine Mutter hat das zum Glück intuitiv begriffen und mir ermöglicht!

Zum Sicherheitsgefühl hochsensibler Menschen gehört auch zu wissen, dass ethische Standards eingehalten werden. Ungerechtigkeiten, Diskriminierungen, Bloßstellungen sind für HSM noch schwerer erträglich als für weniger sensible Menschen, und erzeugen oft sogar physischen Schmerz – übrigens nicht nur, wenn sie am eigenen Leib erfahren werden, sondern auch, wenn sie bei anderen beobachtet werden.

Ein Beispiel: Als ich Grundschülerin war, spielten Kinder manchmal Klingelmännchen – was ich gehasst habe! Ich musste jedes Mal weinen, wenn ich da mitmachen sollte, denn ich fand es unerträglich, dass die Leute, bei denen man klingelte und die dann niemanden an der Tür vorfanden, total verwirrt waren und sich vielleicht große Sorgen machten.

Taktvolles Verhalten vermindert Schamerleben. Das gilt immer, ist für HSM aber besonders wichtig, denn ihr Schamempfinden ist in der Regel sehr ausgeprägt und leicht aktivierbar. Hier ist vor allem die sogenannte Kompetenzscham zu erwähnen: Viele HSM haben sehr hohe Ansprüche an sich selbst und entwickeln nicht selten einen Perfektionismus, mit dem sie sich (und ihr Umfeld) ganz schön triezen können. Bleibt der HSM hinter seinen eigenen Erwartungen zurück, kommt es zu Schamerleben. Schätzt das Umfeld die Fähigkeiten des HSM aber zu gering oder falsch ein, kommt es zu Widerstand, Wut oder Verweigerung. Genau zu schauen, wann und wie man etwa lobt, empfiehlt sich bei HSM sehr. Umgang auch mit berechtigtem Lob und das Empfinden von Stolz und Freude sind oft eine heikle Angelegenheiten bei HSM und müssen erst trainiert werden. Vermutlich liegt dem ein fragiles Selbstwertgefühl zugrunde.

Ein Beispiel: Ich war, seit ich schreiben konnte, eine Geschichtenerfinderin. Ich hatte ein Heft, in das ich meine Texte schrieb. Meine Mutter war stolz darauf und hat dieses Heft eines schicksalhaften Tages, ohne meine Erlaubnis, einer Bekannten gezeigt, bevor ich sie davon abhalten konnte. Mir war klar, dass das keine verständige Person war, was sich auch sofort gezeigt hat: Sie hat gelacht! Das war’s dann mit meiner schriftstellerischen Karriere. – Was hätte aus mir werden können …

Sind sie denn eigentlich alle gleich?

Jetzt habe ich die ganze Zeit die Lupe auf ein Persönlichkeitsmerkmal gehalten und damit womöglich den Eindruck erweckt, dass HSM alle irgendwie gleich sind. (Und Sie denken jetzt vielleicht insgeheim, meine Güte, ganz schöne Freaks!)

Ich kann Ihnen sagen: Sie sind keineswegs alle gleich! Und das ist auch gar nicht erwartbar, wenn man bedenkt, dass sie überall mit ca. 25 % dabei sind. Meistens erkennen Sie sie also gar nicht. Nicht nur, weil viele HSM Meister der Anpassung sind und sich gut funktionierende soziale Masken zugelegt haben, die sie benutzen, um sich zu schützen. Nein, auch, weil die Grundpersönlichkeiten sich sehr voneinander unterscheiden können. Längst nicht alle HSM sind introvertierte Eigenbrötler oder gefühlsbetonte Beziehungsmenschen oder untauglich für sportlichen Wettkampf oder was man sich sonst noch eher klischeehaft vorstellen könnte. Es gibt sie als Gefühlsmenschen, als Denker und als Macher. Dementsprechend vielfältig sind ihre Interessen und Talente.

Man kann es vielleicht so sehen: Zur Grundpersönlichkeit mit ihren individuellen Begabungen kommt die Hochsensibilität hinzu und modifiziert sie jeweils durch die spezielle Wahrnehmungsverarbeitung. Nach meiner Erfahrung und Überzeugung gibt es keine gesellschaftlichen Bereiche, in denen HSM grundsätzlich nicht zu finden sind – außer vielleicht in kriminellen Milieus, wo ich sie zumindest deutlich weniger vermuten würde als robustere Menschen.

Zum Schluss möchte ich noch etwas gestehen, nämlich dass ich geradezu allergisch reagiere auf viele Darstellungen von Hochsensibilität, die sehr ins Esoterische und irgendwie Feinstoffliche hineinschwingen. Auch Elaine Aron ist nicht frei davon, finde ich. Ich bin zwar auch davon überzeugt, dass die Evolution nicht ein Merkmal hervorbringt, das sich stabil hält und das gleichzeitig zu nichts gut wäre. Aber ich glaube auch nicht, dass HSM die Vorhut bilden auf dem Pfad der Erleuchtung, wie man bei mancher Lektüre zuweilen annehmen könnte. Mir persönlich reicht es aus, sie als Menschen zu sehen, die ein Talent zum Flow zu haben, oft mit tiefer Liebe zur Poesie und Natur und Offenheit gegenüber Transzendenzerleben.

In Anlehnung an eine Formulierung des Dichters Peter Rühmkorf würde ich sagen: Hochsensible sind einmalig – wie wir alle.